Ich hatte das große Glück, zwei Vorstellungen bei den Favoriten sehen zu können. Eine hat mich sehr ratlos zurückgelassen, daran spinnt sich aber eine schöne Geschichte, die andere fand ich sehr großartig. Keine der beiden Produktionen wurde ausgezeichnet.
Favoriten ist das seit 30 Jahren bestehende Theaterfestival in Dortmund, das alle zwei Jahre Theaterproduktionen aus ganz NRW zeigt.
Die Spielstätten befanden sich in Unionsviertel, das Festivalzentrum am fabelhaften Dortmunder U, mehr oder weniger outdoor, mit Autoscooter, wo abends eine grandiose Tanzkaraoke stattfand, das Catering erledigte der Foodtruck der Refugees‘ Kitchen (die den Publikumspreis erhielt.)
Aber nun zur ersten Produktion Das Glitzern der Welt von kainkollektiv. Das Stück hatte Ende 2015 Premiere und hat sich im Vorweihnachtseinkaufstrubel sicher anders angefühlt. Mich hat es sehr ratlos zurückgelassen, aber dennoch sehr lange beschäftigt. Grundsätzlich wurde es gut besprochen, z. B. hier und hier.
Es begann damit, dass wir uns in einer kleinen Gruppe von sieben Leuten auf der Dachterrasse des U sammelten, da bekamen wir dann jeder einen MP3-Player ausgehändigt, den wir auch alle synchron starten mussten. Wir hörten dann eine männliche Stimme, die von einem Abenteuer erzählte, in das er geraten war und das wir nun nacherlebten. Wir waren also eine Gruppe von „Auserwählten“, die sich auf eine Reise begab. Wir wurden runter, aus dem U geführt, über die Straße hin zu einer Shoppingmall. Anfangs war das alles noch ganz amüsant, aber dann frug ich mich, was dieser Audiowalk denn nun mit Theater zu tun hat. Zu der Ich-Erzählerstimme kam dann eine metallisch verfremdete Stimme, die uns Anweisungen gab. Die Gruppe löste sich auf und jeder sollte für sich durch die Mall laufen, eine Kleinigkeit einkaufen und weiter seine Runden drehen. Auf Ansage sollte man dann jeweils die Etage wechseln. Der Ich-Erzähler berichtete wieder von seinen Erlebnissen. Irgendwann mochte und konnte ich dem verschwurbelten Text nicht mehr folgen, mir wurde es langweilig. Eine für mich angestaubte Konsumkritik wurde postuliert und die inszenierte Aufgeregtheit der Erzählung schlug sich nicht im Inhalt nieder. Nojo.
Irgendwann waren wir oben auf dem Parkdeck angekommen und die Aussicht auf Dortmund in der untergehenden Abendsonne war sehr schön. Dann wurden wir wieder nach unten dirigiert, raus aus der Mall, vor deren Ausgang ein Van mit geöffneten Türen wartete. Als wir drin saßen, stellte ich fest, dass alle Scheiben mit schwarzer Folie abgeklebt waren. Jetzt machte die Geschichte auf einmal was mit mir. Auf einem Monitor, der sich an der (ebenfalls schwarz abgeklebten) Wand zur Fahrerkabine befand, lief ein Film. Zuerst sah man quasi den Blick aus der Windschutzscheibe also den Weg den wir (vermeintlich?) fuhren. Da das nicht wirklich synchron zur tatsächlichen Fahrt lief – man spürte, dass der Wagen links abbog, auf dem Monitor ging es aber geradeaus – musste ich eine plötzlich aufkommende Seekrankheit unterdrücken. Und überhaupt, wohin fuhren wir? Ein kleines Gefühl des ausgeliefert sein stellte sich ein. Erwähnte ich, dass ich bei der Ausgabe des MP3 Players meinen Ausweis als Pfand abgeben musste? Assoziationen von Flüchtlingen, die in LKWs irgendwohin gefahren werden, kamen mir in den Sinn.
Auf dem Monitor sah man nach einem harten Schnitt plötzlich einen Afrikaner, der auf einem Schiff war, der dort durch die engen Gänge lief, dann telefonierte und sich Karten anschaute. Plötzlich hielt der Van und die Tür wurde geöffnet. Der Mann aus dem Film (David Guy Kono) stand dort, in einem illuminierten goldenen Anzug, stellte sich als Herr K. vor, fragte nach unseren Namen, verteilte Klemmbretter mit Formularen, die wir ausfüllten sollten. Mit den Worten, er sei unser Schlepper, bat er uns auszusteigen. Wir befanden uns im Dortmunder Hafen, gingen ein paar Schritte, sahen dem wegfahrenden Van hinterher und wandten uns dann dem Wasser zu. Herr K. rezitierte Texte, mal auf deutsch, mal auf französisch, sang laut ein afrikanisches Lied, dann plauderte er wieder mit uns, erzählte, dass er aus Kamerun sei. Er wies uns auf ein Schiff im Hafen hin, die Diana, die seit 2015 Flüchtlingsunterkunft ist. Wir gingen wieder die paar Schritte zurück, während Herr K. Texte rezitierte und plötzlich stand der Van wieder da.
Diese Sequenzen mit David Guy Kono waren übrigens die besten. Er ist sehr charmant, hat eine tolle Ausstrahlung und wann hakt sich ein agierender Schauspieler während des Spiels schon mal bei einem unter! 🙂
Wir krabbelten alle wieder in den Van und fuhren ein kurzes Stück, Herr K. öffnete wieder die Tür, wir waren an einem Restaurant und gingen dort in eine Art Hinterzimmer, das wie eine kleine Fabrikhalle wirkte. Das Licht war schummrig rot, in der Mitte stand ein Kreis aus Hockern um eine Art unangezündetes Lagerfeuer, dort lagen Dinge, die wohl die Teilnehmer aus den vorigen Gruppen in der Mall gekauft hatten. Wir waren nun bei den Toten (?) Wir verteilen uns im Kreis. Auf den Hockern lagen die Formulare, die wir vorher ausgefüllt hatten und jeder musste eins vorlesen und es dann an die Wand kleben. Wir setzen uns und es gab etwas zu trinken und zu essen (Einen Schluck vergorene Limonade, ein Stück einer Frucht, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe und einen Schnitz Avocado für jeden) und Herr K. versuchte, uns zu einer Diskussion anzuregen: „Wie können wir gut zusammenleben?“ Wir? Mit den Toten? Mit welchen Toten? Unsere Ahnen? Die toten Flüchtlinge? Ich war verwirrt und das ging wohl nicht nur mir so. Lahm warfen wir Worte wie „Respekt“, „Wertschätzung“ oder „Offenheit“ in die Runde, natürlich ergab sich keine Diskussion. Wenn Menschen zu einer Theatervorstellung respektive Performance gehen, sind sie nicht auf Diskussion gepolt. Herr K. brach ab, meinte, das sei nicht zufriedenstellend gewesen, aber wir müssten weiter, (Das war Teil der Performance, wie sich hinterher herausstellte). Nachdem jeder die Unterschrift vom dem Formular, das er vorgelesen hatte, abgerissen hatte, gingen wir raus, Herr K. sammelte diese ein und verbrannte sie, wir seien nun ohne Identität. Das war wieder ein sehr starker Moment. Wir steigen wieder in den Van und während der Fahrt sahen wir auf dem Monitor die Animation eines Schiffes, das durch alte Zeichnungen, Radierungen fuhr: Unterwelt? Odysseus? Hades? Dantes Inferno? Der Ich-Erzähler kam wieder ins Spiel, ich kann mich aber überhaupt nicht erinnern, was er erzählte. Ich habe auch gar nicht richtig zugehört, habe überlegt, wie wohl die Animation gemacht wurde und was das jetzt wohl bedeuten soll. Dann hielt der Van an, der Film endete mit einem wirklich blöden Kalauer, die Tür öffnete sich, wir standen wieder vor dem U und hatten fertig. David Guy Kono hatte sich seine Privatklamotten angezogen, lächelte uns nochmal zu und joggte zurück zum Eingang des U um mit der nächsten Gruppe zu starten.
– Schnitt –
Meine liebe Herbergsmütterkollgin Anke hat in diesem Jahr ihr zehnjähriges Blogjubiläum gefeiert. Sie hat sich dazu etwas Feines ausgedacht: Aus einem alten Plakat des Wallraf-Richartz-Museum ließ sie kleine und große Taschen – Kulturtussibeutel – fertigen und hat sie für einen guten Zweck verkauft. Sie hat zusammen mit Axel Kopp eine Gruppe syrischer Flüchtlinge aus Dortmund zu einem Ausflug nach Köln und ins Wallraf eingeladen. Die ganze Aktion ist in ihrem Blog nachzulesen.
Eine Woche nach meiner Teilnahme an Das glitzern der Welt ploppte bei mir eine Freundschaftsanfrage via Facebook rein. Der Name sagte mir auf Anhieb nichts und da ich gerade in einem Job war, habe ich mich auch erst mal nicht drum gekümmert. Als ich dann abends am Rechner saß wurde mir als erstes das wunderbare Video zum oben erwähnten Ausflug in die Facebook-Timeline gespült, was Anke und Axel geteilt hatten.
Veröffentlicht hatte es die Flüchtlingsinitiative Am Hafen und als ich mir deren Seite ansah, sprang mir das Foto von der „Diana“ entgegen. Ich wusste das gar nicht, dass da ein Schiff liegt, was tatsächlich Flüchtlingsunterkunft ist. Während der Performance war ich mir nicht sicher, ob das in der Entfernung liegende Schiff nun wirklich Unterkunft ist, oder ob es literarisches Zitat oder Metapher war.
Aha, da schloß sich also ein Kreis. Etwas später habe ich mir dann die Freundschaftsanfrage angeschaut und stellte fest, dass sie von David Guy Kono war! Er kommt tatsächlich aus Kamerun, ist ausgebildeter Schauspieler, Marionettenschauspieler und Tänzer. Wie um alles in der Welt ist er auf mich gekommen und hat mich auf Facebook gefunden? Ist mir jetzt noch schleierhaft.
Ich glaube, ich habe noch nie so lange über ein Stück nachgedacht, das mir eigentlich nicht so richtig gefallen hat. Aber scheinbar hat es meine Synapsen zum rotieren gebracht und das ist gut.
Das zweite Stück, Poser (Sic!) – Gebt Gedankenfreiheit! von Sir Gabriel Dellmann beschäftigt sich mit den Themen Überwachung, Datensammlung, Algorithmen und Identität. Die Inszenierung war fabelhaft. Ich habe noch nie ein Stück gesehen, bei dem Live Performance, Videos (live und/oder vorproduziert – das war nicht immer ersichtlich, und das war gut so), Projektionen, Green-Screen, Sound, Licht und Bühnenbild so homogen und sinnvoll miteinander verbunden waren. Voller Kunst- und Popzitate, werden keine Antworten gegeben, aber auch hier die Synapsen zum sirren gebracht.
Das Stück erzähle ich jetzt nicht nach, die Besprechung bei den Ruhrbaronen bringt es gut auf den Punkt.
Gespielt wurde im Depot, einem wunderbaren Kunst- und Kreativort, den ich noch nicht kannte. In der ehemaligen Straßenbahnhauptwerkstatt befinden sich ein Kino, ein Theater, ein großes Kneipenrestaurant und etliche Ateliers und Büros von Künstlern, Kreativen und Designern.
Das Corporate Design des Festivals mochte ich auch sehr. Es gab einen GoodieBag, in dem so ein Hals-Gesichts-Schlauch-Tuch (Wie heißt das Teil?) drin war. Was für ein Jammer, dass das nicht in der Kommunikation im SocialWeb benutzt wurde, was hätte man für lustige Dinge bei einer Instagram-Challenge machen können. Nojo.
Ganz herzlichen Dank an neurohr und andrä, die mir den Besuch der Vorstellungen ermöglicht haben, der mit einer ausgesprochen netten Mitfahrgelegenheit verbunden waren! 🙂
Liebe Ute,
das ist ja ein Zufall, dass sich da der Kreis schließt zu meiner Aktion. Und wie spannend sich das liest, was du bei dem ersten Stück erlebt hast. Ich kann mir vorstellen, dass es bei der Teilnahme vielleicht stellenweise anstrengend und verwirrend war. Aber so, wie du es erzählst, finde ich es äußerst genial. Und ich wäre am liebsten mit von der Partie gewesen. Ich mag nämlich solche Erlebnisse/Performances/Theateraufführungen sehr. Wenn man aus dem Theaterraum hinaus in immer neue Erfahrungsräume hineingeleitet wird, sich Auftritte mit medialen Projektionen abwechseln. Dass man selber ein Teil davon ist, kann stellenweise sehr beklemmend sein. Wir haben uns ja schon häufiger über unsere Erfahrungen mit den Inszenierungen der Signa Truppe ausgetauscht.
Liebe Grüße
Anke
Das finde ich grundsätzlich auch gut. Und das Erlebniss hat sich bei mir ja offensichtlich auch sehr festgesetzt. 🙂 Nur inhaltlich hat es sich mir nicht erschlossen, aber vielleicht ist es auch genau das rätselhafte, uneindeutige, was es ausmacht. Das ist bei Signa ja ähnlich, danke dass Du die erwähnt hast.