Retrospektive: Robert Doisneau in Lüttich

In den 80er Jahren hatte ich mal eine heftige Liebesbeziehung mit Paris. Ich war ziemlich oft da, habe alles dort geliebt. Zum Teil war es aber auch ein Bild von Paris, das ich liebte, ein Teil der Bohème der Vergangenheit, die ich immer versuchte heraufzubeschwöre. Ich las Sartre, de Beauvoir, Boris Vian, Hemingway, Gertrude Stein und viele andere Autor*innen, die das Leben der Künstler*innen dort in den 20ern, 30ern, 40er Jahren beschrieben. Und ich entdeckte die Fotograf*innen, die dort zu dieser Zeit fotografiert haben: Cartier-Bresson, Brassai, André Kertész, Gisèle Freund, Robert Doisneau und ich ging in jede Fotoausstellung, die mir vor die Füße fiel.

Nun läuft in Lüttich eine sehr große Retrospektive „Instants Donnés“ zu Robert Doisneau, die ich unbedingt sehen wollte und dann flatterte mir eine Einladung zur Pressereise zu eben dieser Ausstellung von Visit Wallonia ins Postfach. Perfect Match.

Beim Pressetermin waren auch die beiden Töchter von Doisneau Francine Deroudille und Annette Doisneau, die seinen Nachlass verwalten, vor Ort. Sie waren sehr beliebte Interviewpartnerinnen.

 

Robert Doisneau wurde 1912 geboren und gilt als ein Vertreter der humanistischen Fotografie. Er studierte an der École Estienne in Paris und begann 1929 zu fotografieren. Sein Werk ist sehr breit gefächert. Er fotografierte auf der Straße und in Bistros das Alltagsleben der Menschen, machte Reportagen, war Werksfotograf bei Renault, fotografierte ein paar Jahre für die Vogue, porträtieren Künstler und Schriftsteller  und wurde als Fotojournalist ab 1946 von der Agentur Rapho vertreten. Ca. 400 Fotos aus seinem gesamten Schaffen zwischen 1934 und 1992 werden gezeigt – es ist die größte Ausstellung, die je zu ihm gezeigt wurde.

Die Ausstellung ist in 11 Themenblöcke unterteilt und wurde hier in Lüttich um ein Zwölftes zum Thema Belgien ergänzt. Die Ausstellung kommt ursprünglich aus Paris und ist als Wanderausstellung konzipiert. Lüttich ist nun die zweite Station.

Der Rundgang beginnt mit dem Kapitel Kindheit. Fotos, die Doisneau zum Großteil zwischen Mitte der 1930er und 1950 in und um Paris herum gemacht hat und ich musste sofort an Horst Baumann denken, dessen Retrospektive ich 2023 im MAKK gesehen habe. Beide  haben Kinder auf der Straße, beim Spielen fotografiert, sie wirken meist fröhlich, aber die Kulisse, die immer noch vom Krieg zerstörten Städte, machen das Ganze bedrückend.

 

Robert Doisneau. La Boverie. 2025-2026 © Tempora

Robert Doisneau. La Boverie. 2025-2026 © Tempora

Doisneaus vermeintlich berühmtestes Foto Le baiser de l’Hôtel de Ville, wird in der Ausstellung groß präsentiert. Es wirkt wie ein Schnappschuss, ist aber arrangiert. Er hatte eine Reihe von Fotos von Liebespaaren gemacht und das amerikanische Magazin Life wollte sie publizieren. Dafür hätte man aber die Genehmigung der Fotografierten einholen müssen – was nachträglich schwierig war. Also engagierte man ein paar Schauspielstudierende und machte mit ihnen diese Kussfotos. Die Reportage erschien 1950, aber die Fotos erregten keine große Aufmerksamkeit. Dreißig Jahre später beantragte ein junger Postkartenverleger, dieses Motiv als Plakat zu publizieren. So richtig überzeugt war man nicht, aber man stimmte zu und der Erfolg war phänomenal. Zwei Menschen aus meiner Pressegruppe bestätigten, dass sie dieses Plakat Zuhause hängen hatten. (In meinem Jugendzimmer hing Der Kuss von Peter Behrens). Unlizensierte Nachdrucke kursieren auf der ganzen Welt und Doisneau bekam Briefe von Menschen, die glaubten, sich auf dem Foto zu erkennen und beschreiben romantische Geschichten zur Entstehung dieses Fotos, was Doisneau amüsierte. Aber es gab auch ein paar Gerichtsverfahren, wo Menschen klagten und behaupteten, sie seien da unrechtmäßig fotografiert worden.

Für mich ist das berühmteste Foto aber das von Picasso, der an einem Tisch sitzt, vor ihm zwei Brote, die aussehen wie seine Hände. Das habe ich tatsächlich als Postkarte.

Ich war allerdings auch verblüfft, wie viele Fotos ich gar nicht kannte. Am liebsten mag ich die, die auf der Straße und den Bistros entstanden sind, aber auch die Sozialreportagen über Bergbau- und Stahlarbeiter, das Gefängnis-Hospiz in Nanterres  und die Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben.

Robert Doisneau in Belgien

In den 1950ern und 1960ern reiste Doisneau mehrfach nach Belgien und die Arbeiten, die hier entstanden, werden im letzten und zusätzlichen Teil der Ausstellung gezeigt. Sie zeigen u. a. „Straßenfotos“ aus Gent, Antwerpen und Charleroi, er dokumentierte die Arbeit in der van Damme Textilfabrik in Eeklo, war für den Crédit Lyonnais unterwegs. 1958 fotografierte er im Auftrag des französischen Pavillons für die Weltausstellung in Brüssel  “typische Pariser” und fotografierte auf der Ausstellung selber.

Nicolas Schöffer, Liège, 27 mars 1962 © Atelier Robert Doisneau

Nicolas Schöffer, Liège, 27 mars 1962 © Atelier Robert Doisneau

Sehr interessant fand ich auch seine Arbeit zum kybernetischen Turm von Nicolas Schöffer, der dieses 52 Meter hohe Objekt 1961 erschaffen hat und das am Ufer der Maas, unweit von La Boverie, steht. Er steht seit 1997 unter Denkmalschutz und wurde 2009 in die  Liste des außergewöhnlichen Kulturerbes der Wallonie aufgenommen.

Schöffer selbst hatte sich gewünscht, dass Doisneau sein Projekt fotografisch dokumentiert und das tat der auch Anfang 1962. Zu dem Projekt entstand ein aufwändig gestaltetes Buch, u. a. mit über dreißig Fotos von Doisneau, 150 Serienreliefs mit verschiedenen Variationen (RESERVAD) und 150 Siebdrucken, die Schöffer signierte und einer Vinyl-Schallplatte!

In der Ausstellung wurde ein kleiner, komplett verspiegelter Raum zu den Arbeiten von Schöffer erstellt.

Ausstellungsgestaltung

Für die Szenografie sind Peter Logan und Flora Peyrot – beide für Tempora, die Agentur, die die Ausstellung komplett organisiert hat – verantwortlich.

Man wird intuitiv durch die elf Themenräume geführt.

Bei meinen Kolleg*innen riefen die farbig gestalteten Sektionen Begeisterung hervor. Ich hatte das gar nicht als so außergewöhnlich empfunden. Aber für eine Fotoausstellung vielleicht doch. Meist ist die Farbgestaltung in Museen eher gedämpft, hier sind die Farben ziemlich knallig, aber es hat mich nicht gestört. Mir gefiel die Tapete, die in dem Bereich der Vogue-Jahre geklebt wurde.

Es gibt ein paar szenische Situationen, wie z. B. ein rudimentäres Bistro, wo man Videointerviews von Doisneau anschauen kann und es gibt auch ein kleines Fotolabor, wo mit einem Animationsfilm der Prozess der Fotoabzüge erklärt wird. Das ist ganz witzig, wenn das Licht plötzlich rot wird. Ich fühlte mich sofort in mein Studium und die langen Stunden im Fotolabor zurückkatapultiert. Nur der Geruch hat gefehlt.

Es gibt insgesamt fünf Stationen für Sehbehinderte, auf denen jeweils ein Foto gezeigt wird, wo einige Konturen des Motivs erhaben dargestellt werden. Zudem gibt es Informationen per Audio. Ich habe das mit den ertastbaren Konturen schon mal bei Porzellan gesehen, wo das Dekor nachgezeichnet war. Das erschien mir schlüssig, aber bei Fotos? Was sagen Betroffene dazu?

Im Audioguide kommentiert Robert Doisneau einige seiner Arbeiten. Dafür muss man natürlich Französisch verstehen.

La Boverie

Ausstellungsansicht „Instants Donnés“ zu Robert DoisneauDas Gebäude entstand 1905 im Stil des Historismus zur Weltausstellung als Palais des beaux-arts und diente mehrere Jahrzehnte als Veranstaltungsort für Kongresse, Bälle, Bankette, Messen und Kunstausstellungen. Ab 2013 wurde es durch einen Anbau erweitert und beherbergt nun die Sammlung des Musée des beaux-arts, die im Untergeschoss gezeigt wird. Das Erdgeschoss steht Sonderausstellungen zur Verfügung. Ballsaal ist das Stichwort, denn die sehr große Ausstellungsfläche befindet sich in einem gigantischen Raum. Man kann auf einigen Fotos die Architektur erahnen und ich würde den Raum sehr gerne mal ohne Stellwände sehen.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 19.April 2026 und ich kann sie sehr empfehlen. Von Köln nach Lüttich fährt man nur eine Stunde mit dem Zug und vom schönen Bahnhof Lüttich-Guillemins geht man zu Fuß gut 10 Minuten zum Museum. Übrigens gibt es hier im Bahnhof ein richtiges Bahnhofsrestaurant und das ist sogar schön, man kann da u. a. prima Fritten essen.

Und Lüttich ist ja eh eine Reise wert.

Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog auf englisch und französisch erschienen. ISBN 978-2-930986-22-7

Bei BRF gibt es einen deutschsprachigen Videobericht zur Ausstellung.


PS: Man hat ja immer Hassel mit Abbildungen aus Ausstellungen  und urheberrechtlich geschützten Werken, am schlimmsten, wenn auch noch die Unsichtbarkeitsmaschine aka VG Bild ins Spiel kommt (was hier nicht der Fall ist). Oft müssen die Fotos spätestens sechs Wochen nach Ausstellungsende gelöscht werden. Da hat ja niemand Lust, das nachzuhalten. Vielleicht ist das aber auch wieder so ein deutsches Getue.

Doisneaus Fotos sind noch lange nicht gemeinfrei, aber es gibt Fotos, die zur Ausstellung freigegeben sind. Die zuständige Presseagentur hat mir bestätigt, dass sie nicht zeitlich gebunden sind und darauf verlasse ich mich jetzt (ich werde die Email in Acrylharz gießen) und verwende sie hier. Hoffentlich geht das gut.

 

Ein Kommentar

  1. Wie schön, dieser Ausflug im Blog mit Dir nach Lüttich! Mir fielen ja erst jetzt die Brote auf der Postkarte mit Picasso auf. Tsihi. Ich find’s lustig.

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