Wie die klassische Musik in mein Leben kam.

Ich habe mich fast mein Leben lang mit klassischer Musik schwergetan. Als Kind war das die uncoole Musik, die meine Mutter hörte, im Musikunterricht der Unter- und Mittelstufe haben wir gefühlt jahrelang nur die Lebensdaten von Bach und Mozart durchgekaut, mal das eine oder andere Musikstück gehört. Darüber hinaus hat uns die unwirsche Lehrerin mit viel Theorie beworfen, die mich nicht erreichte. (Musik: 4-5).
Ansonsten bin ich ein großer Popmusikfan mit einer Vorliebe fürs Elektronische.

Beethovenfest 20122012 begegnete ich dann bei Twitter dem Beethovenfest und ich weiß auch nicht mehr genau wie es war, auf jeden Fall gab es diese Einladung zum Tweetup für das Public Viewing auf dem Münsterplatz. Das Eröffnungskonzert wurde live aus der Beethovenhalle übertragen, der Platz war pickepacke voll, es gab ein bisschen Rahmenprogramm,  für die „VIPs“ – zu denen wir Twitterer gehörten –  gab es einen abgetrennten Bereich mit Tischen und Stühlen und Catering. Dort saßen wir dann also, eine illustre Runde von Twitterern und Bloggern, teilweise Fachleute der klassischen Musik, aber auch so Unbedarfte wie ich. Und dann das Konzert: City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Andris Nelsons mit Brahms Nänie und Beethovens Neunter.

Bämm!
Sowas hatte ich noch nie erlebt. Die Musik ging mir direkt unter die Haut ins Herz. Einen Dirigenten, der so abgeht, dem solch eine Leidenschaft und Freude aus allen Poren strahlt, der mit vollem Körpereinsatz sein Orchester dirigiert. Seither bin ich Andris Nelsons Fan.
Das war schon insgesamt ein angenehmer Rahmen, draussen sitzen, zusammen mit netten Menschen, die man kennt oder gerade kennen gelernt hat, ein paar Häppchen essen, etwas trinken. Natürlich ernteten wir auch ein paar mißbilligende Blicke, weil wir da ja „etwas besseres“ waren, in diesem abgezirkelten Bereich und dann auch noch die ganze Zeit „auf unsere Handy starrten“. Völlig absurd wurde es, als wir mitbekamen, wie sich ein Ehepaar darüber mokierte, dass Andris Nelsons zwischen zwei Sätzen einen Schluck aus einer Wasserflasche nahm. Wenn man sieht, wie der Mann da arbeitet, kann man das sehr gut nachvollziehen, für dieses Ehepaar war das ein totales no-go.

2013 erlebten wir eine konzertante Aufführung von Fidelio, mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Paavo Järvi, mit einem famosen Ulrich Tukur als Rezitator. Mojca Erdmann (Marzelline) begeisterte nicht nur mit Ihrer Stimme, sondern verblüffte uns auch, als sie sich in einer Pause aus ihrer Garderobe mit in die Twitterei einschaltete. 2014 sahen wir dann wieder den wunderbaren Andris Nelsons mit Beethovens Symphonien 1-3. Für die Journalistin Julia Spyker war es das erste Tweetup und sie hat ihre Eindrücke für den SWR beschrieben.

Beethovenfest 2013So begeistert mich klassische Musik. Und es ist nicht unbedingt das twittern, sondern das Zusammensein mit Gleichgesinnten in einer lockeren Umgebung, in der man auch mal zwischendurch an seinem Rotwein nippen kann.

Hier muss ich kurz nachschieben, dass wir in der Schule auch zweimal in der Oper waren. Einmal in Carmen und einmal in Die Entführung aus dem Serail. Beiden Besuchen gingen quälende Stunden der Musiktheorie und -analyse voran. Die Carmeninszenierung hat mich dann wohl nicht nachhaltig  beeindruckt, ich kann mich aber noch daran erinnern, dass wir bei der Entführung aus dem Serail völlig begeistert vom Osmin waren, der einen ganz herrlichen Bass  gesungen hat und damit irgendwas in uns Kindern angepingt hat, wir haben ihm frenetisch zugejubelt.

Das fiel mir neulich wieder ein, als das Hessische Staatstheater Wiesbaden  die Entführung aus dem Serail live im Radio übertrug. (Alle regen sich immer darüber auf, wenn Oper ins Internet gestreamt werden soll, aber keiner, wenn es live im Radio übertragen wird. Warum eigentlich?) Ergänzend wurde das mit Twitter begleitet. Ich saß also mit Lapotop auf dem Sofa und hörte die Oper, während ich die Tweets las und mich mit Gleichgesinnten in der ganzen Republik mit viel #Hach darüber austauschte. Irgendwann hatten wir das Bedürfnis auch Bilder sehen zu wollen (ein Videostream wäre toll gewesen) und spontan postete der Ton-Techniker von seinem Arbeitsplatz kurze Videos. Das war Spitzen Kundenservice und -bindung und wir (Twitterer) hatten zumindest einen kleinen visuellen Eindruck von der Inszenierung.
Und nein – ein Stream ersetzt kein Live Erlebnis vor Ort, aber es ist eine gute Alternative zu „gar keine Oper hören“.

Das twittern für das Beethovenfest bringt es mit sich, dass man auch noch zwei weitere Karten für ein Konzert seiner Wahl bekommt und so sah ich 2012 die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen in der Beethovenhalle. Das Konzert unter der Leitung von Paavo Järvi war fabelhaft, das Setting furchtbar. Die piefige Beethovenhalle, mit schlechter Sicht, in engen Sitzreihen, eingeklemmt in einem gefühlt Ü75 Publikum, das Gefühl, dass man, egal was man macht, eh alles falsch macht.

So mag ich keine Musik hören, egal welche. Ich will einigermaßen bequem sitzen. Zu sehen ist ja eh nicht viel, wenn man nicht nah genug an der Bühne sitzt um die Mimik der Musiker beobachten zu können, bzw. wenn man nicht so sitzt, dass man den Dirigenten von vorne sehen kann. Was ich eh immer bevorzugen würde, wenn es die Möglichkeit gibt.

Und jetzt bin ich beim eigentlichen Thema. Dieses erstarrte formalistische, kathedrale Ambiente, in der klassiche Musik in der Regel stattfindet. Man darf nicht zwischen den Sätzen applaudieren. Warum eigentlich nicht, wenn es einen doch mitreißt? Im Theater gibt es ja auch Szenenapplaus. Das ist im übrigen eine relativ neumodische (deutsche) Erfindung und macht überhaupt keinen Sinn. Genau wie das schneiden von Kartoffeln mit dem Messer. Sinnentleerter Quatsch. Und wenn ich lese, was Elmar Weingarten (der damalige Intendant des Zürcher Tonhalle-Orchesters) da 2010 gesagt haben soll, schwillt mir mal direkt der Kamm.
„Die nicht informierten Besucher applaudieren sowieso nur, wenns laut wird, dann sind sie begeistert.» Es gebe aber auch Ausnahmen: «Wenn ein Star wie der Pianist Lang Lang in der Tonhalle spielt, dann ist ein Publikum ohne Konzerterfahrung da, und das applaudiert nach jedem Beethoven-Satz. Das ist dann auch kein Problem, denn mit ernsthafter klassischer Musik haben diese Konzerte sowieso nichts zu tun.“ [Basler Zeitung, 10.03.2010]

Das passt ja ganz hervorrangend zur gerade tobenden „Banalitäten-Diskussion“ in der bildenden Kunst. Hier, hier und hier.
E! U! Gebildete Menschen! Menschen, die keine Ahnung haben! Ich glaube, da hat einfach nur eine vermeintliche Bildungsbürger Elite Angst, dass ihr die Felle schwimmen gehen. Die letzte Bastion bröckelt.

Herrjeh! Es geht um Musik. Und Emotionen. Immer!

Was Daniel Hope da über „La Folle Journée“ schreibt, klingt ganz interessant. Scheint was von barcamp-Charakter zu haben 😉
Night of the proms ist ja auch so ein Format, wo ein Clash der Musikstile passiert, wo klassische Musik in großen Stadion, in legerer Atmosphäre zu hören ist, und was seit vielen Jahren sehr erfolgreich ist.

Die Kombination von Pop und Klassik gefällt mir in der Regel auch nicht. Wenn Tenöre Popsongs singen kriege ich zuviel und verpoppte Klassik finde ich auch meistens schrecklich, aber es gibt Crossover Projekte, die ich ganz fabelhaft finde. Wenn z. B. Brandt Brauer Frick elektronische Musik mit klassischen Instrumenten kombinieren, oder die #groophy Reihe der Dortmunder Philharmoniker.

Elektronische Musik (House) mit Symphonieorchestern funktioniert für mich sehr gut.

Das ist Geschmacksache und muss nicht jedem gefallen. Worum es mir geht, ist eine Veränderung in der Kommunikation und Vermittlung und ein Aufbrechen der Rahmenbedingungen und der Formate. Es muss auch kein entweder / oder sein, ich wünschte mir nur sehr viel mehr Angebote, klassische Musik auch live in einem entspannten, formlosen Ambiente genießen zu können.

The Nightshift ist eine Veranstaltungsreihe aus London, die es seit 2006 gibt und das ist genau das was ich will: Classical Musik: Minus the Rules.

Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich das in all den Jahren noch nicht weiter durchgesetzt und verbreitet hat.

Was bin ich froh, dass es mit The Cast* in Köln ein junges Opernsänger Ensemble gibt, die sich genau das auf die Fahnen geschrieben haben. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass nur ein Mitglied ursprünglich aus Deutschland kommt. Ja! Warum nicht auch mal eine Klassik-Jamsession? „Was wir wollen ist das Publikum mit einbeziehen und ein Konzert wieder zu einem gemeinsamen Erlebnis zu machen.“ „Bei uns kann das Publikum entspannen und sich einfach dem Gesang hingeben, ohne auf eine irgendeine Etikette achten zu müssen.“
Und genau das habe ich auch schon so erlebt. Und es war mitreißend.

Es gibt also solche Bestrebungen, es gibt Menschen und Musiker, die das  befürworten und dafür arbeiten.
Und wenn den großen Häusern ihr Publikum langsam webstirbt, um es mal ganz hart zu formulieren, dann müssen sie sich Gedanken machen über ein zeitgemäßes diverses Angebot, denn die Zielgruppe für klassische Musik ist nicht homogen!
Und ich hoffe sehr, dass es in diesem Jahr auch wieder ein „Public Viewing“ beim Beethovenfest geben wird.

* Über The Cast wurde ein Dokumentarfilm gedreht, der am 23. Mai in Köln seine Premiere hat. Weiter Termine stehen an: http://operatic.de

Nachtrag 1.6.15: Gestern sah ich auf arte die sehr interesante Doku „Klassik für alle“ in der das Format Yellow Lounge der Deutschen Grammophon erwähnt wurde. Das scheint etwas ähnliches zu sein, wie das oben erwähnte Nightshift. Na also. Geht doch. Weiter so.

Nachtrag 16.6.15: Den Beitrag von Christian Holst entdeckt, der sich des Themas fachmännisch, analytisch und kritisch annimmt. Und in den Kommentaren auf diese spannende Inszenierung beim PODIUM Festival Esslingen gestoßen:

19 Kommentare

  1. Zu der Frage, warum man nicht zwischen den Sätzen applaudieren sollte, kann ich als klassisch ausgebildeter Komponist, Musiktheorektiker und Musikwissenschaftler vielleicht etwas Erklärendes sagen:

    Warum hat ein Werk überhaupt mehrere Sätze? Es gibt durchaus Werke, da ist die Mehrsätzigkeit tatsächlich in erster Linie eine Reihung ähnlicher Stücke. Man denke da z.B. and Tanz- und manch andere Suiten (allerdings auch nicht alle Suiten. Ein Gegenbeispiel wäre z.B. Strawinskys Feuervogel-Suiten, bei denen es zwischen manchen Sätzen durchaus wichtig ist, daß es zügig weitergeht. Auch z.B. Smetanas „Mein Vaterland“ würde ich hierzu zählen. Bei solchen Werken sind die Sätze in sich absolut vollständige Stücke, ohne große Querverbindungen zu den anderen Sätzen (obwohl es in „Mein Vaterland“ schon ein paar motivische Querverbindungen gibt, die Sätze an sich sind aber trotzdem in sich abgeschlossen.)

    Dann gibt es aber noch einen Fall und zwar sehr oft. In Sonaten, Sinfonien und vielen anderen Werken, sind Sätze nicht völlg in sich geschlossene Stücke, sondern sie bilden zusammen ein großes Ganzes. Nehmen wir ein Extrembeispiel: Am Ende des ersten Satzes seiner Zweiten Symphonie schreibt Gustav Mahler: „Hier folgt eine Pause von mindestens 5 Minuten.“ Leider traut sich das heute kein Dirigent mehr, aber würde man das wirklich so aufführen wollen, wIe Mahler sich das vorgestellt hat, dürfte man an dieser Stelle nicht nur nicht klatschen, sondern es müßte mindestens fünf Minuten die ganze Spannung des gerade gehörten Satzes erhalten bleiben – bei Hören und Musikern! Kein Rascheln, kein sich zurechtsetzen, kein Umherschauen, vielleicht nicht einmal ein Absetzen der Instrumente! Einfach eine nachdenklche, absolute Stille.

    Warum schreibt Mahler diese Anweisung in die Partitur? Vorausgegangen ist ein riesiger Satz mit bis dahin unbekannten Dimensionen. Dieser Satz existierte, bevor Mahler ihn in seine Zweite aufnahm, sogar separat, als einzelner Satz, und war in diesem Stadium mit dem Titel „Todtenfeier“ überschrieben. In der Zweiten ist diese gigantische und emotional höchst aufgeladene Musik jedoch nur der Anfang von etwas noch viel Größerem. Und Mahler ist sich hier durchaus bewußt, daß der Hörer hier einiges an Zeit benötigt, um das Gehörte auf sich wirken zu lassen und emotional zu verarbeiten (nicht, um sich einen Hustenbonbon aus der Tasche zu holen 😉 ).

    Bei Werken der ersten Kategorie wäre es vielleicht in der Tat nicht so schlimm, wenn man zwischen den Sätzen applaudieren würde, bei Werken der zweiten Kategorie – und das sind durchaus nicht wenige, und es geht da auch nicht nur um Mahlers Riesensymphonien – würde ein Applaus zwischen den Sätzen einiges kaputt machen und es würde auch dem Hörer erschweren, das Werk als Ganzes zu verstehen.

    Diese beiden Kategorien von Werken voneinander zu unterscheiden, ist für den Hörer nicht ganz einfach, denn dazu müßte man sich schon vorab relativ intensiv mit dem Werk auseinandersetzen.

    Dies erklärt vielleicht etwas, weshalb die Regel, nicht zwischen den Sätzen zu applaudieren durchaus ihren Sinn hat.

    • Lieber Patrick,
      vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar, den habe ich mit großem Interesse gelesen. Und dass es Unterschiede bei den Sorten von Sätzen gibt, wusste ich nicht.
      Aber.
      Schreibt Mahler denn auch in seiner Anweisung, dass man sich in den fünf Minuten nicht bewegen darf? Und wenn schon, wer will mir vorschreiben, wie und auf welche Art ich Kunst zu genißen und zu verarbeiten habe? Dann würde ich doch sagen, machen wir 15 Minuten Pause, denn ich kann das am besten bei einem Spaziergang an der frischen Luft verarbeiten und ich drehe zwischen den Sätzen eine Runde um den Block. 😉

      Es gibt ähnliches in Museen, wo mir „vorgschrieben“ wird, dass ich die Kunst stehend zu betrachten haben. Es gibt für meinen Geschmack definitiv in zu vielen Museen zu wenig Sitzegelegenheiten. Oder Hemingway, der – aus der tatsächlichen Not heraus – mal empfohlen hat, hungrig ins Museum zu gehen, weil man mit den so geschärften Sinnen die Kunst viel intensiver wahrnehmen würde. Ja danke, spitzen Tipp. Ich kriege schlechte Laune, wenn ich hungrig bin und könnte mich gar nicht mehr auf die Kunst konzentrieren.

      Ich kriege aber auch schlechte Laune, wenn mir vorgeschrieben wird, wie ich mich emotional zu verhalten habe. In Deinen letzten Sätzen schimmert mir da diese herablassende Bildungseliten Haltung durch, nur wer die entsprechenden gesellschaftlichen Codes und Normen einhält, hat überhaupt die Möglichkeit zu versthen. Ich kann doch auch einen Wein ganz köstlich finden, auch wenn ich von Weinanbau nichts verstehe. Und ich muss doch auch nicht ein Werk in seiner kompletten musiktheoretischen Gesamtheit verstehen, um davon berührt zu werden. _Natürlich_ verstehe ich mehr, je mehr ich weiß, aber es kann doch nicht sein, dass es nur einen Weg gibt sich Wissen und Erkenntnis anzueignen.

      Wer es auf diese akademische Art haben will, soll es haben – ich will es anders herum auch niemandem vorschreiben, und ich kann es auch gut verstehen, dass es das Bedürfnis gibt, Musik in dieser Form zu hören. Ich wünschte mir einfach nur viel mehr Angebote, Musik und Kunst „unreligiöser“ und undogmatischer rezipieren zu können. Als Mann vom Fach weißt Du ja auch, dass es zu Shakespeares, Mozarts und Beethovens Zeiten bei den Live Performances ganz anders zuging.

      Es gab auch, ich meine auf dem Blog des Beethoven Festivals, vor ein paar Jahren eine rege Diskusion zu dem Thema, wo sich auch viele Musiker und Dirigenten mit durchaus sehr unterschiedlichen Positionen zum Them geäußert haben. Ich habe das nur leider nicht mehr gefunden. [Vielleicht kann jemand aushelfen?]

      • Auf diese Antwort mit dem „um den Block“ gehen, habe ich fast gewartet. 😉 Stimmt, rein vom Wortlaut könnte man denken, auch das könnte gemeint sein, wenn man sich aber etwas mit dem Menschen und der Musik Mahlers beschäftigt, wird sofort klar: DAS hat er AUF KEINEN FALL gemeint! 🙂

        Auch wenn ich an sich ein gläubiger Mensch bin, ist für mich Musikdarbietung nicht religiös. Wichtig ist weniger, die Aufrechterhaltung überlieferter Muster, jedoch sollte es absolut selbstverständlich sein, die Musik so aufzuführen, daß sie so nah wie möglich dem gerecht wird, was der Komponist wollte. Da darüberhinaus so viel garnicht festlegbar ist, bleibt trotzdem noch sehr, sehr viel Raum für verschiedene Interpretationen.

        Daß man sich aber an das hält, was der Komponist .- direkt oder indirekt – vorgibt, gebietet aus meiner Sicht schon der Respekt. Wenn man bedenkt, welch aufreibender Akt Komponieren oft ist, bei dem man sich dauernd aus vielen Ideen für irgendetwas entscheiden muß, was aber oft wahnsinnig schwer ist, da es da ganz viel mehr Nuancen als nur „richtig“ oder „falsch“ gibt, wenn man bedenkt, daß so mancher Komponist viele Stunden und mit viel Herzblut um winzige Details gerungen hat, dann sollte man nicht leichtfertig umgehen mit dem, was er da in harter Arbeit geschaffen hat und das, was er wollte, bestmöglichst respektieren – auch heute noch.

        Auch ich bin heute geboren und kann durchaus verstehen, das eine Generation, die mit Popmusik aufgewachsen ist, sich extrem schwertut mit der Vorstellung, vor einem Komponisten und seinem Werk eine gewisse Ehrfurcht zu haben. Diese Ehrfurcht bis ins Religiöse zu übersteigern, wäre genauso falsch als wenn man annehmen würde, klassische Musik würde in allem genauso funktionieren wie Popmusik. Ja, es gibt da durchaus Überschneidungen, aber eben auch deutliche Unterschiede.

        Rock/Pop war und ist im Wesentlichen (natürlich gibt es auch da Ausnahmen) Provokation und/oder Kommerz. Erst recht heutzutage! Wenn heutzutage einer einen Popsong schreibt, tut er bzw. sie es in erster Linie so, daß der Song sich möglichst gut verkauft.

        Provokation gibt es in der klassischen Musik auch, auch schon weit vor dem 20. Jh., aber die fand oft sehr subtil statt und man mußte auch nicht mit jedem Stück provozieren. Leben wollten Komponisten damals auch, aber der wirtschaftliche Erfolg war nicht die Antriebskraft. Manche haben trotzdem ausreichend verdient, viele aber auch nicht. Man muß sich klarmachen: Franz Schubert wäre nach heutigen Begriffen ein Sozialhilfeempfänger ohne festen Wohnsitz, mit vielen Freunden, nach außen hin durchaus gesellig, aber trotzdem immer allein. Und mit Mitte 20 zieht er sich eine damals unheilbare Geschlechtskrankheit zu, an der er mit 32 ziemlich qualvoll stirbt. Dieser Mensch schreibt und schreibt Musik (allein 600 Lieder in ca. 15 Jahren und noch viel mehr) von unvorstellbarer Tiefe und Intensität, die natürlich von dem geprägt ist, was er erlebt hat undwas in ihm vorgeht…

        Und wenn man sich das klar macht, fällt es zumindest mir schwer, diese Musik einfach so auf eine Stufe zu stellen, was irgendein heutiger Popstar tut, um mal wieder einen Hit zu landen, abzukassieren und sein oft ohnehin dickes Konto aufzubessern. 🙂

      • Aaaah! Darauf habe ich gewartet! E ist gut. U ist böse. 😉
        Bei dem Respekt gegenüber dem Künstler und dem Werk bin ich ganz Deiner Meinung. Aber was genau heißt das denn? Verhalte ich mich respektlos, wenn ich eine hervorragende Aufnahme von Beethovens Eroica zu Hause höre und dabei auf dem Sofa rumlümmel? Oder ist es schon respektlos, die von Mahler empfohlene fünfminütige Pause auf eine zu verkürzen? Du schreibst „Das hat er auf keinen Fall gemeint.“ Woher weißt Du das? „gemeint“ bedeutet ja mal, da gibt es Interpretationsspielraum und offensichtlich keine eine Wahrheit. Wenn der Komponist etwas bestimmtes wollte, hätte er es doch genau so aufschreiben können. Und wie Du auch schreibst, bietet jede Partitur Interpretationsspielräume. Das ist ja die Crux bei Komponisten, oder auch Bühnenautoren. Ihre Werke sind ja lange noch nicht fertig, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind. Denn dann kommen ja die Arrangeure, Dirigenten, Regisseure, Schauspieler, Musiker, Tänzer und hauchen dem Papier Leben ein. Und das hat IMMER mit Interpretation und Variation und überhaupt dem Faktor Mensch zu tun.
        Ich persönlich finde ja, dass genau an dem Punkt, wenn man Dinge in neue Zusammenhänge bringt, das Althergebrachte überwindet und mal etwas anderes ausprobiert, genau da kann man wunderbare neue Entdeckungen machen, Horizonte und Welten können sich auftun. Das muß nicht zwangsläufig so sein, es muss auch nicht immer gut sein, aber einen Versuch ist es immer wert.

        „Rock/Pop war und ist im Wesentlichen (natürlich gibt es auch da Ausnahmen) Provokation und/oder Kommerz. Wenn heutzutage einer einen Popsong schreibt, tut er bzw. sie es in erster Linie so, daß der Song sich möglichst gut verkauft.“ Also, bei allem Respekt, das ist ja als Argumentation Bullshit. Was ist denn schlecht daran, mit dem was man gut und gerne macht, Geld zu verdienen? Ist nur ein armer Künstler ein guter Künstler? Ich glaube, Herr Schubert hätte liebend gerne ordentlich Geld mit seinen Kompositionen verdient. Und wieviele der geschätzten Komponisten haben ihren Lebensunterhalt mit Direktion, Intendanz, Auftragsarbeiten, als Lehrer usw. verdienen müssen? Und die Situation von freiberuflichen Musikern ist heute genau so prekär wie vor 200 Jahren. Nur gab es vor 200 Jahren zufälligerweise noch keine Popmusik.
        Also, Geld kann ja wohl nicht der Maßstab sein. Und nicht jeder Künstler ist ein guter Künstler. Es gibt und gab immer schon gute Künstler die nicht erfolgreich sind/waren, oder es erst posthum wurden, was ja auch blöd ist. Also auf der Schiene kommen wir nicht weiter. Ich bin davon überzeugt, dass es in der klassischen Musik genauso banale Kompositionen gab und gibt, wie es sie in der Popmusik gibt, nur haben sie wahrscheinlich die letzten 100, 200, 300 Jahre nicht überlebt, so wie es viel Popsongs auch nicht tun werden. Ebenso wurde ganz gewiss auch vor 200 Jahren nach Gefälligkeit und Publikumsgeschmack komponiert.
        Ich verstehe auch gar nicht warum Du plötzlich die Popmusik ins Spiel bringst. Weil ich in meinem Artikel das eine oder andere Crossoverprojekt anführte? Um den Punkt geht es mir überhaupt nicht. Und ich möchte auch gar nicht über Qualität diskutieren. Ich werde mich hüten irgendwelche Vorschläge zu machen wie ein Stück gespielt, interpretiert oder umgesetzt werden soll, ob werktreu oder experimentell. Davon habe ich überhaupt keine Ahnung, lasse mich aber gern offen und neugierig auf alles möglich ein. Mir geht es um die Rahmenbedingungen. Und da sehe ich mich in diesem Land im 21. Jahrhundert in einer Tradition des 19. Jahrhundert verhaftet. Und das gefällt mir nicht. Zumal ich es auch schon ganz anders erlebt und erfahren habe. Und es war fabelhaft.

        Und by the way, die Argumentation mit Alter und Generation brauchen wir auch nicht aufmachen, die führt nämlich auch zu nichts, weil das eine Sache der Haltung ist und nicht des Alters.

        PS: Auch wenn wir augenscheinlich sehr unterschiedliche Standpunkte vertreten, mag ich die Diskussion sehr.

  2. Nun habe ich mir extra Mühe gegeben und trotzdem sind mir einige Tippfehler im vorigen Kommentar unterlaufen. Ich bitte um Verzeihung…

  3. Leider gibt es oben keinen Knopf mehr zum Antworten, deswegen hier – allerdings nur wenige Anmerkungen.
    Daß E gut und U böse ist, habe ich nie gesagt, aber es sind grundlegend verschiedene Sachen mit einer völlig anderen Intention. Und wenn einer sagt: „Eroica, Rihanna, alles das Gleiche, Hauptsache Mucke und mir gefällt’s“ :), der sollte noch einmal genauer hinhören. 🙂

    Warum hat Mahler keine Zigarettenpause gemeint? Weil der gleiche Mahler z.B. in der Oper höchst verärgert Ouvertüren abgebrochen und neu begonnen hat, weii Leute zu spät kamen und weil für ihn Symphonien zu komponieren gleichbedeutend war mit der Erschaffung einer Welt!

    Und ja, höre Deinen Beethoven auf der Couch, kein Problem damit! Wenn man allerdings alles in einen Topf wirft und so tut, als sei alles das Gleiiche, wird viel Tiefe an einem vorbeirauschen.

    Wäre ich Dirigent – ich würde Mahlers Fünf-Minuten-Pause wagen, denn ich glaube, das wäre heute für viele eine echte Grenzerfahrung :), noch viel mehr als damals.

    • Hm. Ich komme jetzt nicht mehr ganz mit. Vielleicht möchtest Du einfach nur Luft ablassen, über eine Laus, die Dir über die Leber gelaufen ist, von der wir aber nicht wissen, welche es war.
      Doch, Du hast gesagt Popmusik sei entweder Provokation und/oder Kommerz und in Deinen Zeilen schwingt da für mich Abwertung mit. Ich kenne auch niemanden, der Eroica und Rihanna in einen Topf wirft und von Zigarettenpause habe ich auch nichts geschrieben. Ich werfe auch nichts in einen Topf, oder behaupte, alles sei das Gleiche, finde viel mehr, dass Du Deinen Weg gehst, ohne nach rechts und links zu schauen, ohne genau zu lesen und zuzuhören. Schade.

      Ich fände das mit der fünfminütigen Pause zwischen den Sätzen übrigens sehr spannend. Wenn das mal irgendwo so gespielt wird, gibt mir gerne Bescheid.

      • Eine Klarstellung noch: Meine Anmerkung zur Rock- und Popmusik war überhaupt nicht wertend gemeint, sondern eine ganz sachliche Feststellung!

        Es stimmt zwar, daß ich, je mehr ich mich mit Musik auseinandergesetzt habe, ich desto weniger Rock und Popmusik höre, aber bei meiner Anmerkung ging es mir nicht um geschmackliche Fragen.

        Fakt ist aber, daß Beat, Rock’n’Roll, Rock, Pop von Anfang an eine Musik des Widerstands, der Rebellion, des Aufbegehrens war. Nun will ich keinesfalls behaupten, daß es solche Beweggründe in der klassischen Musik nicht gäbe. Die gibt es durchaus, aber nicht in dieser Ballung und es gab damals eine viel größere Bandbreite an Beweggründen, warum Komponisten Musik schrieben.

        Mittlerweile ist Popmusik ziemlich glattgebügelt, das schockiert heut keinen mehr (außer vielleicht Hiphop und Rap, aber da schockieren viele auch nur, weil ihr Publikum das eben so erwartet), dafür geht es jetzt vor allem um Kommerz. Mit Spotify&Co. ist allerdings auch das für die meisten bald vorbei, aber das wäre jetzt ein anderes Thema…

  4. Eins noch: Das was heute im Klassikbetrieb gespielt wird, ist nur die Spitze des Eisbergs an GUTER Musik, die es gibt. Ich stoße immer wieder auf Komponisten und Musik, die selbst ich vorher nie gehört habe, und wo mir teilweise der Mund offensteht, weil das Musik ist, die den Großen in nichts nachsteht, ja, mitunter sogar kreativer ist.

  5. Hui, das ist ja eine Auseinandersetzung hier. Aber wunderbar zivilisiert 🙂

    Fuer mich habe ich auch die Stille zwischen 2 Saetzen lieber als Applaus, um in mich hineinhorchen zu koennen und der Wirkung der Musik nachzugehen. Das gilt aber genauso fuer ein Rockkonzert oder ein Jazzkonzert – ein bisschen zwischen 2 Stuecken runterkommen ist gut fuer mich.
    Dass es Menschen gibt, die das diametral anders sehen, verwundert mich nicht wirklich. Wir sind schliesslich verschieden. Die Frage ist dann: Ist es dir sehr wichtig, direkt zwischen den Saetzen zu applaudieren oder kannst du (und Menschen, die genauso empfinden) dich auch mit einem „Super-Applaus“ zum Ende anfreunden?
    (Ich nehme da mal die „das hat so-und-so zu sein“-Menschen aus).

    Hoerempfehlung zum Schluss: Das Dieter Ilg Trio – Mein Beethoven (Jazz). Gefaellt mir super, war besonders live sehr toll. Trotz Applaus nach den Stuecken. ;P

    • Jetzt dreht mir hier bitte nicht die Worte im Mund rum. Zum einen war das mit dem Klatschen zwischen den Sätzen nur ein Aspekt, zum anderen geht es mir um den Punkt, dass gesellschaftliche Normen über einem Ausdrücken von Emotionen stehen. Ich will nicht grundsätzlich, immer, nach jedem Satz klatschen. Wenn aber ein Satz, der temperamentvoll, mitreißend und energievoll endet und dazu noch herausragend gespielt wurde, mit einem Dirigenten, der abgeht wie Schmitz Katze, dann empfinde ich die stille Regungslosigkeit des Publikums danach, wie ein ausgebremst werden. Und mir tat es in solchen Momenten auch schon für die Musiker leid, die sich da abgearbeitet haben. Die sitzen ja immerhin auf der Bühne und legen ihr Herz und ihre Seele in die Musik.

      • Bitte, der Reihe nach…
        Zum einen soll mein Kommentar nicht mit Patricks zusammenhaengen. Ich dachte, das durch „fuer mich“ klar gemacht zu haben. Das ist ausschliesslich meine Meinung.
        Was soll ich denn zum Rest kommentieren? Den kann ich so unterschreiben. Toll, dass du klassische Musik fuer dich entdeckt hast. Nein, wenn ein Dirigent zwischen zwei Saetzen etwas trinkt, ist mir das egal. Crossover duerfen auch gerne sein (ob sie mir gefallen ist mal so, mal so).

        Der einzige Aspekt, den ich anders sehe, ist das klatschen. Ich mag die „Stille danach“. Empfinde das auch nicht ausbremsend, obwohl ich verstehen kann, wenn es Menschen (wie dich) gibt, denen das dabei anders geht. Nicht mehr und nicht weniger wollte ich aussagen 😉

        Dass es die Musiker stoert, wenn nicht applaudiert wird (zwischen Saetzen) ist aber glaube ich ueberhaupt nicht der Fall.

      • Da ist aber eben noch ein Aspekt: In vielen Fällen steht ein Satz, wie bereits erläutert, eben nicht für sich allein. Und es gibt durchaus Werke, bei denen man erst am Ende wirklich merkt, ob das Ganze in sich stimmig war oder eben nicht. Eine Symphonie z.B. ist eben keine „Playlist“ aus drei, vier oder mehr unabhängigen Sätzen, sondern das hängt sehr oft alles zusammen.

        Vielleicht solltest Du mal versuchen, Satzpausen eher als „Cliffhanger“ wahrzunehmen.

      • Das mit dem Cliffhanger ist ein schönes Bild. Das werde ich mir beim nächsten Konzert mal vorknöpfen. 🙂

  6. @Patrick Andrés Orozco-Estrada hat kürzlich beim hr-Sinfonieorchestet in Mahlers Zweiten statt der 5 Minuten eine „richtige“ Pause gemacht. Als Erklärung, warum nicht nur 5 gab er an, dass 5 Minuten „Nichtstun“ als Musiker und Dirigent nicht geht. Was sollen sie 5 Minuten auf der Bühne tun? Die Pause mit Raus gehen war zu lang. Da fiel das Werk auseinander – stümperhaft meinerseits erklärt …

  7. Ich finde diesen Artikel grandios. Einfach, weil er davon berichtet, wie man sich etwas nähern kann ohne das Genre studiert zu haben. Einfach sich (hier!) auf die Musik einzulassen. Doch das kann man. Man kann vor einem Turner, einem Picasso stehen und versinken ohne zu wissen, wie man das Linnen fein grundiert . Man kann sich einem Shakespeare-Stück in einer abgefahrenen Inszenierung nähern ohne 20 Semester Anglistik erlitten zu haben. Man kann Mahler hören ohne die i-Tüpflchen seiner Kommentare zu kennen. Man kann Beethoven verstehen ohne auch nur zu wissen, was ein Bassschlüssel ist. Man kann Rilke lesen ohne jede Drittliteratur zu kennen. Der Artikel ist ein Top-Beispiel wie Social Media Dinge in Gang setzt, gerade, wenn man sich aktiv und professionell damit umgeht, sie nutzt. Es ist die Schilderung einer Initiation. Großartig! Und das mit dem U und dem E wird sich irgendwann auflösen. Lass uns irgendwo hingehen und zwischen die Sätze klatschen. :)))) Und anschließend mit der 2.Violine noch ‚was trinken gehen und fragen, wann Frau Vogel ihre nächste Vernissage hat ….

  8. Mahler zwei ist ein schönes Beispiel. Die Stelle wird ja oft noch mit Hinzutreten der Sängerinnen durch Applaus aufgelockert. Ich empfinde das meistens als Verlust. Der Beginn des zweiten Satzes nach der Katastrophe des ersten ist mir einer der stärksten Momente des klassisch-romantischen Kanons.

    (Kanon ja nein, klar. Vorbildung ja nein, klar. Aber machen sie doch mal das Experiment, YouTube hat’s doch da.)

    Stille ist nicht Abwesenheit von Musik.

    Super Diskussion, danke!

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