Familienforschung: Meine kriminelle Urgroßmutter

Ich kannte meine Urgroßmutter mütterlicherseits nicht.

Ich kannte lange über sie nur vier kolportierte Sätze von meiner Mutter: Sie habe ihren Mann  um Geld betrogen, er hätte sie „rausgeschmissen“ und sie wäre im KZ als Verbrecherin umgekommen. Meine Großmutter musste sich dann um ihre Schwestern und den Haushalt kümmern und das Geld bei den Kunden ihres Vaters „eintreiben“.

Soweit die Legende und familiäre Erzählung.

Als ich mit meiner Familienforschung begann, stieß ich irgendwann auf die Heiratsurkunde meiner Urgroßeltern Adolf Hütz und Henriette Baum. Sie haben 1907 in Barmen geheiratet. 1911 und 1912 kam jeweils eine Tochter zur Welt (meine Großmutter war die Älteste), es folgte eine dritte Tochter, von der ich nicht weiß, wann sie geboren wurde. Mein Urgroßvater war zu der Zeit Bandwirkmeister – das Bergische Land war zu dieser Zeit Hotspot für die Bandweberei. Viele Menschen haben zu Hause in Heimarbeit gewebt und gewirkt. Aus alten Adressbüchern kann ich entnehmen, dass er zeitweise zwei Adressen hatte, ich vermute eine Wohnung und eine Werkstatt.

Jahrzehntelang wusste ich ja nur von drei Regionen, wo meine Vorfahren herstammen. Mütterlicherseits aus Barmen (jetzt Wuppertal), väterlicherseits aus Sachsen und Schlesien. 

Die Überraschung ist dann immer groß, wenn man ganz neue Regionen auftut. So war das z. B., als ich durch Recherchen entdeckte, dass die mütterliche Seite vor Barmen ca. zwei Generationen lang in Münster/Westfalen und davor in Gau-Algesheim (Landkreis Mainz/Bingen) lebte, und ein Vorfahre Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Hunsrück dorthin zog. 

Die spannenden Fragen an diesen Stellen sind dann immer: Warum zog einer vom Hunsrück nach Gau-Algesheim und einer von dort nach Münster, dessen Sohn dann nach Barmen. Das sind ja immerhin 38, 332, 103 Kilometer.

So war ich ebenfalls überrascht, als ich herausfand, dass meine Urgroßmutter in Düsseldorf geboren wurde und ich dort ihre Geburtsurkunde anfordern konnte. Über ihre Eltern habe ich noch nicht viel herausgefunden. Der Vater Friedrich tauchte erstmals 1880 in Düsseldorfer Adressbüchern auf – er wurde dort zuerst als Fabrikarbeiter und später als Wirt geführt. Spätestens 1903 taucht er in den Adressbüchern von Barmen auf. Von 1909 bis 1912 wurde unter der Adresse Heckinghauser Straße 181 nur noch seine Witwe als Wirtin geführt.

Scheidung 1919

Auf der Heiratsurkunde der Urgroßeltern ist 1919 handschriftlich ihre Scheidung vermerkt, mit dem Hinweis, dass mein Urgroßvater seiner Ex-Frau verbot, seinen Namen weiterzuführen. Die Kinder verblieben bei ihm.

Ausschnitt einer Heiratsurkunde mit handschriftlicher Anmerkung

Das fand ich ein ganz schön starkes Stück. Scheidungen fanden zu der Zeit ja nur mit „Schuld“ statt. Auch dass die Kinder beim Vater blieben, fand ich heftig, aber das war zu der Zeit wohl durchaus normal, wie mir jemand sagte. Immerhin war der Vater der Ernährer, die Mutter ohne Beruf. 

Ich habe dann lange überlegt, was zu dieser Zeit wohl eine 33-jährige, geschiedene Frau tat, die keinen Beruf erlernt hat und aus einem relativ bürgerlichen Leben kam? In einer Fabrik arbeiten? Putzen gehen? Prostitution?

Aber die erzählte Geschichte vom KZ ließ mir auch keine Ruhe. Ich habe dann versucht, im Arolsen Archiv zu recherchieren, davon ausgehend, dass Henriette nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen führte. Ich fand dann dort auch eine Person mit dem Namen, kam aber nicht weiter. 

Ich weiß nicht, wer von euch da schon mal was recherchiert hat, ich finde das alles überhaupt nicht intuitiv oder benutzerfreundlich. 

Auf der Geburtsurkunde war vermerkt, dass Henriette 1936 ein zweites Mal geheiratet hat: einen Herrn Drucks in Hagen. In diesem Jahr taucht sie auch einmalig im Hagener Adressbuch unter der Adresse von Karl Drucks in der Gartenstraße auf. Zwischen 1937 und 1941 müssen die beiden in die Elberfelder Straße gezogen sein, denn die Adresse ist auch auf Henriettes Totenschein genannt.

Totenschein? Ja!  Als ich dann wusste, dass sie ab 1936 Drucks hieß machte ich eine Rechercheanfrage beim Arolsen Archiv und bekam nach vier oder fünf Monaten Antwort:

Meine Urgroßmutter ist am 1.11.1943 in Auschwitz an Herzmuskelinsuffizienz gestorben.

 

Sterbeurkunde

Außerdem bekam ich den Hinweis zum Sächsischen Staatsarchiv, bzgl. des Polizeipräsidium Leipzig, wo eine Namensliste vorliegt, die vom Arolsen Archiv nicht weitergegeben werden darf. 

Von dort bekam ich die Information, dass Henriette am 19.10.1942 mit einem Sammeltransport in das Polizeigefängnis Leipzig gebracht wurde.

Henriette war im Frauenzuchthaus Jauer inhaftiert. Das ist in Schlesien, ca. 280 km von Auschwitz entfernt.

Im Frauenzuchthaus in Jauer wurden während des Zweiten Weltkrieges Frauen mit langen Haftstrafen untergebracht, zunächst nur solche aus dem Gebiet des Dritten Reiches, bald auch aus den besetzten Gebieten. Die Zahl der Insassinnen stieg in dieser Zeit sprunghaft an: Am 31. Oktober 1940 waren 310 Frauen inhaftiert, Anfang Februar 1941 waren es schon 471 und am 20. September erhöhte sich die Zahl auf 1555.“ [https://www.hausschlesien.de/tag/jauer]

Ich habe im Netz leider so gut wie keine Informationen über das Frauengefängnis Jauer gefunden. 

 

Das sind die Fakten und Belege, die mir vorliegen.

Die großen Fragen sind jetzt: Was hat Henriette zwischen 1919 und 1936 nach ihrer Scheidung gemacht? Sie war da ja in ihren besten Jahren. Sie taucht in dieser Zeit in keinem Adressbuch von Barmen oder Hagen auf.

Wie und wo hat sie Herrn Drucks kennengelernt? Wie kam sie von Barmen nach Hagen? Wie war ihre Beziehung? Henriette war bei dieser Hochzeit immerhin schon 50 Jahre alt, Herr Drucks 61. Herr Drucks ist bis 1941 in den Hagener Adressbüchern zu finden. Ist er dann verstorben und Henriette wurde wieder kriminell, oder sind die beiden umgezogen? 

Sie schien ja eine kriminelle Ader gehabt zu haben. Während der Ehe mit meinem Urgroßvater hat sie scheinbar Geldbetrügereien begangen. Was hat sie später wo verbrochen, das zu einer Verurteilung und einer langen Haftstrafe führte?

 

PS: Am liebsten würde ich diesen Plot Mechtild Borrmann schenken. Sie würde daraus bestimmt eine fulminante Geschichte bauen. Falls jemand den Kontakt hat – feel free. 🙂 

 

PPS: Falls jemand zu ähnlichen Themen und Orten recherchiert, ich bin dankbar für Tipps und an Austausch interessiert.

 

Ein Kommentar

  1. Boah, das liest sich wirklich spannend und ich hoffe, es lässt sich irgendwann mehr herausfinden. Ich finde es klasse, dass du diese Ahnenforschung betreibst. Ich schreibe gerade für meine Enkeltochter Sachen auf. Und merke, dass ich wirklich wenig weiß über meine Vorfahren. Vielleicht muss ich mir mal Tipps holen, wie man an mehr Infos rankommt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert