Die Biennale de l’Image Possible/BIP in Lüttich

Frühstück im ZugDa lebe ich seit vielen Jahren nur eine Zugstunde von Lüttich entfernt, bin aber viel zu selten da und wusste auch gar nicht, dass es dort seit 27 Jahren eine Kunstbiennale gibt. Glücklicherweise lud der Tourismusverband VISITWallonia zu einer Pressefahrt dorthin ein und das nahm ich gerne wahr. Wir fuhren ganz schick mit dem Eurostar – formerly known as Thalys – bekamen dort ein fantastisches Frühstück serviert (liebe Bahn, man kann auch in einem Zug sensationell guten Kaffee machen!) und waren kurz vor 10 Uhr in Lüttich.

Wir nutzten die Gelegenheit und sahen uns in der Kirche Saint Pholien die immersive Monet Ausstellung an. Ich bin diesen Event-/Marketingausstellungen gegenüber sehr skeptisch und hatte darüber schon auf Instagram gerantet, das mache ich jetzt hier nicht nochmal. Ich kann es nicht empfehlen, es ist sehr schlecht. Die Kirche allerdings würde ich bei Gelegenheit gerne mal besichtigen, wenn sie nicht zugebaut ist, sie ist nämlich wunderschön ausgemalt. Die Kirche steht in Outremeuse, dem Viertel, in dem George Simenon aufgewachsen ist, und sie spielt in Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien eine Hauptrolle.

 

Dann also weiter zur Biennale de l’Image Possible/BIP, dem internationalen Kunstfestival.

Die Biennale wurde 1997 ins Leben gerufen und konzentrierte sich zunächst auf die Fotografie. Heute erforscht sie die Heterogenität und Durchlässigkeit der verschiedenen Arten des zeitgenössischen Bildes in Resonanz mit den Problemen, die sich unserer Welt und Gesellschaft stellen.

Das Programm präsentiert belgische und internationale Künstler*innen und zeigt eine große Vielfalt an Werken (Fotoserien, Videos, Filme, immersive plastische, akustische und digitale Installationen).

Organisiert wird die BIP von der Trägerinstitution des Lütticher Kulturzentrums Les Chiroux, gemeinsam mit 13 Partnern.

Sie findet an einem außergewöhnlichen Ort statt: die ehemalige Provinzbibliothek Les Chiroux. Auf 7000 Quadratmeter dieses riesigen, stillgelegten Glas- und Betonkomplex mit großen Lesesälen, Büros, Lagerräumen mitten im Herzen der Stadt. Das Interieur ist zum großen Teil noch da: leere Regale, Büromöbel, Metallspinde, Archivregale. Sie werden teilweise zur Präsentation genutzt, oder sind einfach nur da und tragen zur besonderen Atmosphäre bei.

Wir begingen zur Presse Preview das ganze Haus und manchmal wusste ich nicht, was ich interessanter fand, die Kunst oder die Räumlichkeiten. Aus der Fülle der Kunst picke ich hier ein paar Arbeiten raus, die mich beeindruckt haben.

Der deutsche Fotograf Rafael Heygster konzentriert sich in seinen Langzeit-Projekten auf die Beziehung zwischen dem Individuum und seinem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld. Seine Rauminstallation entstand in der Auseinandersetzung mit der  Corona-Pandemie die ihm wie ein surrealer Traum erschien. Sie zeigt die Spannung zwischen dem öffentlichen Leben, dem dahinter stehenden infrastrukturellen Apparat und den Menschen, die sich in diesem Raum bewegen. Die  theatralische Bildästhetik der Fotografien spielt mit unseren Vorstellungen von Pandemie und Krise.

“Mein Ziel ist es nicht, die Individualität der fotografierten Menschen herauszustellen, sondern sie wie Filmfiguren oder Avatare in Videospielen zu zeigen. Mit Corona Rhapsody möchte ich zeigen und hinterfragen, wie die aktuelle Pandemie in den Medien dargestellt und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, inwieweit sich dies mit subjektiven Erfahrungen deckt, wie sie möglicherweise für politische Zwecke instrumentalisiert wird und wie wir uns in Zukunft an die Corona-Krise erinnern werden.“ sagt Rafael Heygster zu seiner Arbeit.

Wibke Ladwig hat für VitisWallonia ein Instagram Reel mit Rafael Heygster gemacht.

 

Tinder_gun_boys_@Brussels_ ist eine sehr spektakuläre Arbeit von Loïs Soleil

Sie entstand, nachdem sie einige Screenshots von heterosexueller Männer, die auf der Dating-App Tinder stolz mit Waffen posieren, gesammelt hatte. Die Rauminstallation besteht aus Tatami-Matten, deren Bezüge mit Hunderten dieser Screenshots bedruckt sind. Um die Sammlung zu erweitern, hat Loïs Soleil eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Waffen erkennt, und einen Roboter, der auf Tinder swipen kann.

Anschließend fand auf diesen Tatamimatten ein feministischer Selbstverteidigungskurs statt, um ein abstraktes Video zu erstellen, das in die Installation integriert wurde. Darüber hinaus wurde mit Hilfe von Anwälten, die die durch diese Arbeit aufgeworfenen Rechtsfragen zusammenstellten, während sie künstliche Intelligenzen nach Rechtsberatung befragten, ein Video mit dem Titel „Wie man als Künstler nicht verklagt wird“ erstellt.“

Lois-SOLEIL-Tinder-Gun-Boys-detail-Photo-_-©Gert-Jan-van-Rooijtif

Lois-SOLEIL-Tinder-Gun-Boys-detail-Photo-_-©Gert-Jan-van-Rooijtif

 

Nach uns die Sintflut? von Camille Dufour weist auf die Dringlichkeit der Bedrohungen hin, denen die biologische Vielfalt im Zeitalter des Anthropozäns ausgesetzt ist. Dieser Holzschnitt ist Teil eines monumentalen Freskos, das eine Vielzahl vom Aussterben bedrohter Arten darstellt. Für ihre Zeichnungen und Drucke verwendet Camille Dufour schwere, zwei Meter lange Eichenbretter als Matrize. Bei Auftritten werden sie nur einmal eingefärbt, um dann von Hand mit Hilfe einer Seife gedruckt zu werden, bis die Tinte aufgebraucht ist. Während die Zeichnungen von vom Aussterben bedrohten Arten langsam von Blatt zu Blatt verschwinden, zeichnen die bei der Druckarbeit hinterlassenen Seifenspuren eine unmögliche Wundheilung nach. Das Fresko wird außerdem fragmentiert, um nach dem Zufallsprinzip in Tausende von Briefkästen verteilt zu werden.

"Nach uns die Sintflut?" von Camille Dufour

„Nach uns die Sintflut?“ von Camille Dufour

Caramel Curves, 2012 – 2018 – herrliche Fotos von Akasha Rabut  des ersten rein weiblichen afroamerikanischen Motorradclubs in New Orleans.

Die Caramel Curves bewegen sich in einer Motorradwelt, die überwiegend männlich und weiß ist, und stellen die durch Rasse und Geschlecht festgelegten Grenzen in Frage. Ihre Anwesenheit unterbricht die Normen und ruft allein aufgrund ihrer intersektionellen Identität als schwarze Frauen Kritik und Widerstand hervor. Doch trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe – von der Sexarbeiterin bis zur Ärztin – finden sie zu einer Einheit und bilden eine Schwesternschaft, die Unabhängigkeit und gegenseitige Unterstützung fördert. Sie bewegen sich nicht nur auf dem Terrain der Motorradkultur, sondern setzen sich auch für die Belange ihrer Gemeinschaft ein, indem sie Spielzeugsammlungen und Spendenaktionen für Frauen in Not organisieren.

Klaus Pichler

Die Arbeit Das Petunien-Gemetzel, 2022 über widernatürlich orange und transgene Petunien in Helsinki von Klaus Pichler, sind mir bei unserem Schnelldurchgang gar nicht aufgefallen. Ihn habe ich erst auf der Website entdeckt. Seine Fotoprojekte sind mir in der Vergangenheit schon öfter über den Weg gelaufen. z. B. seine Fotos über Schimmel im Zusammenhang mit meinem Kunststrudel, oder sein Buch Dust, als wir Herbergsmütter uns mal mit Staub beschäftigt hatten. Schön, dass ich ihm auf diese Weise wieder begegnet bin.

Klaus PICHLER, The Petunia Carnage, 2020-21

Klaus PICHLER, The Petunia Carnage, 2020-21

 

Adrien Mans und Benjamin Ooms arbeiten an Projekten, die sich mit der Umgestaltung bestehender Gebäude, der Kreislaufwirtschaft, der Schaffung gemeinsamer Orte und Güter (zugunsten der Aneignung durch die Bürger) und der Widerstandsfähigkeit von Biotopen befassen. Ihre Interventionen nehmen die Form von Möbeln, Szenografie, Architektur, öffentlichen Räumen, partizipativen Workshops oder Bildern an, die neue Lebensweisen vorschlagen.

Das Projekt MutationsxUrbaines findet im BIP statt und stellt die Zukunft des modernistischen Komplexes Chiroux-Croisiers in Frage, der Anfang 2024 zum Verkauf steht. Anhand von drei Installationen, Artefakten, Archivbildern und Collage-Workshops behandelt MutationsxUrbaines Themen im Zusammenhang mit der Wiederverwendung von Materialien, grauer Energie, Bürgerbeteiligung und der Neugestaltung unserer Stadtlandschaften.

Was mit dem Gebäude der ehemaligen Provinzbücherei geschehen wird, steht derzeit nämlich noch in den Sternen.

Das Archipel

Zusätzlich gibt es noch Das Archipel, 24 Orte in Lüttich, an denen im Zusammenhang mit der BIP Ausstellungen stattfinden. Wir hatten die Gelegenheit, zwei davon zu besuchen – mehr gaben unsere Zeit und auch die Muckis in unseren Beinen nicht her.

In der kleinen, aber feinen Galerie Les Drapiers gab uns Claire Willians Auskuft über ihre Arbeit zu unsichtbaren Material. Diese Materialien, die zu instabil sind, um mit heutigen Techniken instrumentalisiert zu werden, fungieren als Schnittstellen zwischen dem Menschen und der Welt um uns herum und zeigen uns andere Möglichkeiten der Herstellung, des Fühlens und der Wahrnehmung. Um diese nicht greifbaren Materialien zu erforschen, haben Forscher und Praktiker Geräte, Instrumente, Körper und DIY-Experimente zusammengestellt. Sie manipulieren verschiedene Arten von Energiematerial wie Träume, die Psyche, Ektoplasmen, die Aura, Magie, Magnetismus … Les Æther (Claire Williams, Debora Levyh) sammeln und reaktivieren Techniken des Unsichtbaren aus den Archiven der experimentellen und okkulten Wissenschaften. Alte Fotos von „Medien“ wurden mittels KI lebendig und die Frauen sprachen zu uns (natürlich auf französich und ich habe nichts verstanden.) In „Les Télépathes“ schwingen Glasskulpturen mit den Frequenzen der neuronalen Aktivität von Träumern.

 

New Space, eine ehemalige GroßgarageEin spektakulärer Kunstort ist die ehemalige Großgarage New Space, wo zur Zeit “L’expérience Vidéographie – (RTBF, 1976-1986) – Videokunst und Anti-Fernsehen“ gezeigt wird. Eine  Hommage an die Sendung Vidéographie, die zwischen 1976 und 1986 sporadisch von RTBF ausgestrahlt wurde. Vidéographie präsentierte nicht nur Mediennachrichten, sondern leistete auch einen wichtigen Beitrag zur Produktion und Förderung von Videokunst von internationalem Rang. Funfact: In einem der Videoschnipsel sahen wir eine Sequenz mit der sehr jungen Katharina Thalbach.

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Die Biennale läuft noch bis zum 1. Juni 2024 und ein langes Wochenende kann man sich da locker mit beschäftigen. 

Lest bitte auch, was Anke | Kulturtussi über unseren Ausflug geschrieben hat.

 

Transparenz: Vielen Dank an VisitWallonia und Eurostar. Die Fahrtkosten wurden übernommen, der ganze Tag war sehr gut organisiert. Danke auch an das Organisationsteam der BIP, bei dem Pressetermin gab es nämlich ein spitzen Catering!

 

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