Spurensuche Tag 3 – emotional

Eigentlich wollte ich heute mal eine Pause machen. Seit neun Tagen bin ich ununterbrochen am tun und am machen, habe Trubel um mich. Heute morgen war ein bisschen die Luft raus. Ich habe etwas länger geschlafen, ein bisschen rumgedörmelt, telefonisch ein paar Dinge organisiert und dann einen Spaziergang gemacht und mich vom kräftigen Wind durchpusten lassen.
Dann dachte ich mir am Nachmittag, ach komm, dann fahre ich noch zu dem Ort, wo meine Großmutter bei ihren Großeltern aufgewachsen ist, das ist nämlich nicht weit von meinem Basecamp hier in Döbeln entfernt.

Ich wusste, dass es das Haus nicht mehr gibt. Meine Großmutter war mit meinen Eltern vor ca. 25 Jahren schon mal dort und da war es schon nur mehr eine Ruine. Da ich nicht wusste, wo genau das Grundstück ist, musste ich rumfragen, habe bei zwei Häusern geklingelt und dann waren da Leute, die schon immer dort lebten. Der alte Vater kam hinzu und er konnte sich tatsächlich noch an meinen Ururgroßvater erinnern. Der habe zu Feiertagen ein Grammophon rausgestellt und man hörte gemeinsam Musik. Seine Mutter habe immer gesagt, das Haus der Ururgroßeltern sei das schönste im Dorf. Auch an einen der Söhne konnte er sich erinnern. Von dem weiß ich, dass er im 2. Weltkrieg gefallen ist. Meine Großmutter kannte er nicht, aber ich habe dann in Gedanken kurz sein Alter überschlagen und vermutlich war sie schon fortgezogen, als er ein kleines Kind war.

Ich bin dann rüber zum Grundstück gegangen, habe mich durchs Gebüsch geschlagen, mich in die Ruine gehockt und musste heulen. Vielleicht weil mir so unverhofft lebendige Erinnerungen von meinen Vorfahren, die ich selber gar nicht kannte, mitgeteilt wurden, vielleicht, weil es ein echter haptischer Ort war, an dem mal Leben stattgefunden hat und an den nun auch die Erinnerungen langsam verschwinden. Vielleicht auch, weil meine Familie langsam verschwindet und ich versuche, noch ein paar Schnipsel zu erhaschen.

Ich hatte gestern im Heimatmuseum von Wilsdruff ein langes angeregtes Gespräch mit der Museumsleiterin. Unter anderem sprachen wir darüber, wie sich gewisse Dinge über Generation vermitteln – oder auch eben nicht. Stichwort Kriegsenkel.

Aber wahrscheinlich vermitteln sich auch andere unausgesprochene Dinge innerhalb einer Familie über Generationen – und man weiß es einfach nicht.

Seit einiger Zeit trage ich ein Bedürfnis in mir, am liebsten auf dem Land oder in einem Haufendorf leben zu wollen, nachdem ich mir jahrzehntelang keine andere Lebensform als die Stadt vorstellen konnte. Ich habe ja schon neulich auf Porto Santo mit leerstehenden Häusern geliebäugelt und hier in der sächsischen Provinz hätte man die freie Auswahl. Aber ach, das zieht ja wieder ganz andere Probleme nach sich. Es sind nur Gedankenspiele.

Ein Sechzehntel des Grundstücks hat mal theoretisch mir gehört. Ich hätte es für einen Apfel und ein Ei kaufen können. Ich habe mir heute einen Apfel aus Ururgroßvaters ehemaligen Garten mitgenommen.

Das Dorf meiner Ururgroßeltern hatte 1925, das war sechs Jahre, bevor meine Großmutter dort fortzog, 103 Einwohner. Heute, bzw. 2011, sind es 34, in 13 Häusern. Und da gibt es außer einem Briefkasten und einer Bürgerbushaltestelle – immerhin! – nichts.

Drumherum:

 

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